Magnús Sveinn Helgason hat geschrieben:
KULTUR
Heiden gegen Hass: Exklusiv-Interview mit dem Hohepriester des isländischen Pagan-Verbandes
[Exclusiv ins Teutsche übersetzt für das Eyneforum]
Die isländische Heidenvereinigung, Ásatrúarfélagið, ist die am schnellsten wachsende religiöse Gemeinde in Island. Mit fast 3.000 Mitgliedern
[28.03.17: 3583] ist sie die sechstgrößte religiöse Gruppe in Island und mit Abstand die größte nicht-christliche Gruppe. Seit 2000 ist sie um 657 % gewachsen. In diesem Jahr begann die Gemeinde mit dem Bau ihres Tempels in Reykjavík, den sie Ende nächsten Jahres weihen will. Es wird der erste zentrale heidnische Tempel sein, der in den nordischen Ländern in mehr als tausend Jahren gebaut wurde.
Der Allsherjargoð Hilmar Örn Hilmarsson (in der Mitte), der Hohepriester des isländischen Pagan-Verbandes vermittelt, dass diejenigen, die Ásatrú als eine Religion des Militarismus, Blutvergießens und Heldenverehrung ansehen, dies durch den Blick des deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts und nicht der Lieder-Edda sehen. (Foto: Stefán Karlsson)
Eine Religion der Achtung und Harmonie
Was auch immer der Grund für das Wachstum des Ásatrúarfélag sein mag, es ist keine aggressive heidnische Missionierung. Hilmar Örn Hilmarsson, der Hohepriester oder Allsherjargoði des Ásatrúarfélag, sagt uns, dass weder er noch irgendein anderes Mitglied der Gemeinde Missionsarbeit geleistet hat."Wir versuchen nicht, neue Mitglieder zu gewinnen. Menschen kommen zu uns, weil sie etwas sehen, was ihnen gefällt, sie sehen unsere Zeremonien, ob es eine Hochzeit oder ein Begräbnis ist, und sie sehen, dass dies schöne Zeremonien sind, und haben das Gefühl, dass Ásatrú auch ihnen etwas bieten könnte. "
Hilmar Örn Hilmarsson "Es ist eine Religion, die dich lehrt, in Harmonie mit deiner Umgebung und dir selbst zu leben." (Foto: Stefán Karlsson)
Hilmar Örn betont, dass Ásatrú eine Religion des Friedens und der Achtung ist. "Es ist eine Religion, die dich lehrt, in Harmonie mit deiner Umgebung und dir selbst zu leben und mit den verschiedenen Phasen deines Lebens umzugehen. Wie man alt wird und wie man altert." So gesehen ist das Ásatrú, wie es in Island praktiziert wird, eine Religion der Achtung und Toleranz. "Wir berufen uns auf die isländische Gesellschaft und isländische Werte", erzählt Hilmar.
Während die Betonung von Respekt und Toleranz zum Wachstum der Gemeinde in Island beigetragen hat, passt sie nicht gut zu einigen ausländischen Glaubenspraktikern. Hilmar erzählt uns, dass Ásatrúarfélagið "verstörende" Botschaften und Hassmails von konservativen Heiden aus anderen Ländern erhalten hat. Unter anderem hat der Schwerpunkt Ásatrúarfélagið auf Gleichberechtigung und Achtung der Menschenrechte, insbesondere der LGBT-Rechte, einige reaktionäre Heiden von außerhalb verärgert.
Ásatrú gegen den deutschen militaristischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts
"Ásatrú ist keine Religion, die Chauvinismus, Militarismus oder Blutvergießen feiert, im Gegensatz zu dem, was viele zu glauben scheinen. Ganz im Gegenteil. In denDróttkvæði (den Heldenldichtungen, wie sie in den alten Sagen enthalten ist) gibt es eine Menge Stoff, wo die Dichter Verse von Heldentaten zusammengesponnen haben, die sie vielleicht gar nicht getätigt haben. Aber in der Lieder-Edda findet man diese Art von Prahlerei und bombastischem Heldentum eher selten, und darin sind die hauptsächlichen Texte, die im isländischen Ásatrú verehrt werden. "
Hilmar argumentiert, dass die Grundlage dieser irrigen Ansicht von Ásatrú als einer Religion, die von der Verherrlichung von Heldentum, Kämpfen und Blut besessen ist, im 19. Jahrhundert zu finden ist.
"Dieses Missverständnis von Ásatrú kommt von der Tatsache, dass viele es durch die Linse des deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu sehen scheinen. Im 19. Jahrhundert schauten sich deutsche Nationalisten, Künstler, Dichter und Komponisten die Lieder-Edda zur künstlerischen Inspiration an und lasen dort die Art von Militarismus, Heldenverehrung und Kriegsvergötterung heraus, die damals den deutschen Zeitgeist beherrschten. "
Hilmar ist auch unter Beschuss von dem, was er heidnische "Fundamentalisten" nennt, weil er verkündet hat, dass er die Geschichten der Götter nicht wörtlich nimmt.
"Ich habe gesagt, dass ich nicht an einen einäugigen Mann glaube, der auf einem achtbeinigen Pferd reitet, und einige betrachten das als Blasphemie. Es gibt immer Leute, die wollen, dass Dinge in Stein gemeißelt werden. Aber in der Lieder-Edda geht es eigentlich darum, wie sich das Leben verändert und wie man sich darauf vorbereitet, auf die Veränderungen zu reagieren, die einen erwarten."
Homophobie und Gender-Bending-Götter
Odin war natürlich einäugig, nachdem er Mimir am Brunnen von Urdur an der Wurzel des Weltenbaums Yggdrasill sein Auge geopfert hatte. Sein Pferd, Sleipnir, ist das Kind des Gottes Loki (in Form einer Stute) und Svadilfari, ein Riese der Rasse von Hrimthurs, der die Mauern des Reiches der Götter, Asgard, erbaute. Dies ist eine Geschichte, die uns daran erinnern sollte, dass die Götter selber ziemlich drastische Geschlechtsumwandlungen praktiziert haben.
Eine weitere wichtige Geschichte aus der Edda erzählt, wie Thor (Þór), der Gott des Donners und ein Sinnbild von Männlichkeit, sich als Göttin Freyja ausgibt. Der Jötuner König Þrymr hatte Thors Hammer Mjölnir gestohlen und verlangte die Hand von Freyja als Gegenleistung für den Hammer. Indem er sich als Drag Queen verkleidete und den König heiratete, konnte Thor den Hammer zurückholen.
Tatsächlich, erklärt Hilmar, dass die Einwohner der Wikingerzeit in den nordischen Ländern und in Island frei jeglicher Homophobie waren, die heute unter Kulturkonservativen zum Standard geworden ist.
"Sie stützen ihre Interpretation von Ásatrú auf Tacitus Germania, eine römische Abhandlung aus dem Jahr 70 n. Chr. Germania wurde geschrieben, um die römische Lebensart zu kritisierenen. Tacitus porträtiert die germanischen Stämme als edle Wilde, die die Römer lehren können, auf einen Weg zurückzukehren, von dem er glaubte, sie hätten ihn verlassen. Das darf nicht als akurate Beschreibung, wie das germanische Volk seine Religion praktizierte, verstanden werden und beschreibt sicherlich nicht, wie die Siedler Islands ihre Religion praktizierten, etwa 800 Jahre später."
Abbruch aller Verbindungen mit fremden heidnischen Gruppen
Der Ásatrúarfélag löste in den 1980er Jahren alle formalen Beziehungen zu ausländischen heidnischen Gemeinden auf, nachdem Hilmar Örn und sein Vorgänger als Hohepriester, Sveinbjörn Beinteinsson, über die Politik einiger ausländischer Gruppen, die das Ásatrúarfélag besuchten, alarmiert worden waren.
(Foto: Stefán Karlsson)
"Diese Leute schienen Island als eine Art Rom des Nordens anzusehen und wollten von Sveinbjörn eine Art päpstlicher Segnung. Die meisten waren sehr nett in Person, aber sobald wir begannen, in das zu schauen, was sie zu Hause sagten, stießen wir auf Dinge, die wir äußerst verstörend fanden, und am Ende entschieden wir uns, alle Verbindungen zu ausländischen Gruppen zu kappen. Wir wollten nicht an extremistischen Politiken teilnehmen. "
Leider haben Nationalisten und rassistische Elemente ihren Weg in viele ausländische heidnische Gemeinden gefunden, erzählt uns Hilmar. "Solche Elemente gab es im Ásatrúarfélag nie. Nur ein ehemaliges Mitglied, das mir einfällt, hat solche Ansichten geäußert. Sonst hatten wir das Glück, völlig frei von diesen Elementen zu sein. "
Ausländische Hassmail
Nachdem Anfang 2015 in den internationalen Medien Nachrichten über den geplanten Bau des heidnischen Tempels bekannt wurden, stand Ásatrúarfélagið wieder im Zentrum internationaler Aufmerksamkeit.
"Der Bau des Tempels wurde hier in Island seit 2006 diskutiert, aber erst im Jahr 2015 interessierten sich auch die ausländischen Medien dafür. Anschließend begann es, dass wir immer mehr Kritik von Leuten bekamen, die meinten, wir würden unseren Glauben auf die falsche Art und Weise praktizieren, dass wir Ásatrú irgendwie entweihen, indem wir zu tolerant sind. Zuerst habe ich das nicht sehr ernst genommen, aber dann erfuhren wir, dass in geschlossenen Gruppen der Tempel und der Ásatrúarfélag diskutiert werden und die Leute planen, den Tempel zu besuchen, um ihn mit einigen Blutzeremonien "neu zu weihen" um damit unsere Perversion von Ásatrú, wie diese Leute meinen, zu "korrigieren". Einiges von dem, was wir gelesen haben, war extrem verstörend."
Als Konsequenz wird der Tempel von Ásatrúarfélagið nicht so öffentlich zugänglich sein wie ursprünglich geplant. "Wir können uns nicht tief in die Tasche greifen, unsere ganze Arbeit wird ehrenamtlich geleistet, wir können keine Wachen beschäftigen. Daher werden wir die Politik der offenen Türe, die wir geplant hatten, nicht in dieser Art verwirklichen."
"Ásatrúarfélagið - wir sind an eurer Seite!"
Aber nicht jede Aufmerksamkeit aus dem Ausland war kritisch. Nachdem das Iceland Magazine auf seiner Website eine Geschichte über die Hasspost veröffentlicht hat, die der Ásatrúarfélag erhalten hat, wurden die Gemeinde und Hilmar mit Unterstützung von ausländischen Heiden überschüttet. Ein Facebook-Event wurde von einer Gruppe europäischer Heiden gegründet, um Hilmar und dem Ásatrúarfélag zu versichern, dass "isländische Heiden nicht allein in dieser Angelegenheit sind und dass die Unterzeichner dieser Aussage sich voll und ganz für Ihre Sache einsetzen. ... Wir werden nicht zulassen, dass einige Menschen mit reaktionären und bigotten Ansichten die Essenz unseres religiösen Ansatzes bestimmen! ".
Hilmar war tief bewegt von dieser Unterstützung. "Ich war positiv überrascht. Die Schreihälse und Großmäuler übertönen immer die Stimmen der Vernunft und des Verstandes und finden mehr Beachtung. Sie fangen an, die Überhand zu gewinnen."
(Foto: Stefán Karlsson)
Egal was solche reaktionären Heiden - die "Verrückten und Trolle des Internets" - erzählen wollen, Hilmar beteuert, dass das Ásatrúarfélag nicht ändern wird, wie es die alte Religion praktiziert.
"Die Lieder-Edda und ihre Traditionen wurden hier in Island bewahrt, und wir werden nicht zulassen, dass einige ausländische Reaktionäre hierher kommen, um uns zu sagen, wie wir unseren Glauben ausüben sollen."
Hilmar erinnert uns daran, dass das Ásatrúarfélag eine isländische Gemeinde ist, dass es seine isländischen Mitglieder vertritt und dass es nur ihnen gegenüber verantwortlich ist.
"Aber wenn Ausländer uns als Modell betrachten wollen, können sie das gerne tun. Wir werden weiterhin wir selbst sein, und wir werden unsere Art und Weise nicht ändern, um die Ansichten und Überzeugungen von Rassisten oder Nationalisten zu befriedigen. "